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Das kürzeste Timeout der Welt: einmal um den Block

26. April 2024

„Achtsames Gehen bedeutet, einfach zu gehen und sich dabei jedes Schrittes und Atemzuges bewusst zu sein. Das können wir sogar zwischen beruflichen Terminen oder auf dem Parkplatz eines Supermarktes tun.“
(Thich Nhat Hanh, 2016)

Ein Plädoyer für mehr Spaziergänge im Arbeitsalltag

Ein Spaziergang ist in gewisser Weise die kleinste Form von Ferien, die wir je unternehmen können. Er ist die Miniaturausgabe einer Urlaubsreise und steht zu den grossen Ferien in Beziehung wie ein kleines Appetithäppchen zu einem mehrgängigen Abendessen. Die Absicht, während der Runde um den Block einen klaren Kopf zu bekommen, und die Gewissheit, dass Alltag und „lärmender“ Überfluss nicht das Mass aller Dinge sein kann, lassen viele von uns regelmässig die eigenen vier Wände verlassen. Doch selbst, wenn es sich nur um eine neuneinhalbminütige Auszeit im Stadtviertel oder ein paar Momente in der nahegelegenen Grünanlage handelt, ist ein Spaziergang bereits eine Reise, bei der viele der grossen Themen des Reisens präsent sind. 

Ich bin dann mal kurz draussen

Das Bedürfnis, einen Spaziergang zu machen, erwächst aus der gleichen Motivation wie die Sehnsucht, in ein anderes Land zu reisen: mit dem Wunsch, unseren Geist neu zu beleben. Wenn wir zu lange wie festgewurzelt an einem Ort verharren, kommen wir manchmal nicht mehr weiter, werden müde, genervt, haben genug von allem oder einfach nur schlechte Laune. Wir haben zu lange auf den Bildschirm gestarrt, sind sehr geduldig am Esstisch gesessen, haben den umfangreichen Ausführungen der Kolleginnen und Kollegen im Meeting unsere volle Aufmerksamkeit geschenkt, sind ohne nennenswerten Fortschritt auf die gleichen inneren Hindernisse gestossen, erleben Dichtestress oder Verstimmtheit.

Es zieht uns nach draussen. Wir sehnen uns nach Tapetenwechsel, nach Frischluft und Bewegung für unsere eingerosteten Glieder. Wir wollen Abstand, kurz aus dem Alltag aussteigen, mal eben verschwinden. Manche verschwinden in solchen Momenten an den Kaffeeautomaten, in die Raucherecke oder hinter die WC-Tür. Als Alternative hierzu bietet sich die kürzeste Reise der Welt an: ein Mini-Spaziergang. 

Spazieren geht immer und überall

Ich praktiziere Mini-Auszeiten gern und regelmässig während intensiver Arbeitsphasen oder länger dauernder sozialer Anlässe. Die Kaffeepausen im Rahmen von Workshops lassen sich hierfür hervorragend nutzen. Nicht immer erwartet mich eine so bezaubernde Umgebung wie die eines von mir sehr geschätzten Tagungsortes: ein Park mit altem Baumbestand und unmittelbarem Zugang zum Starnbergersee. Selbst im „grössten liegenden Hochhaus der Welt“ im Frankfurter Flughafen lassen sich diese Miniaturreisen realisieren.

Kaum sind wir draussen, spüren wir eine neue Lebensqualität: Luftveränderung, das laute (dem städtischen Lärm angepasste) Gezwitscher zweier miteinander kommunizierender Amseln, ein Sonnenstrahl, der sich durch die Wolkendecke kämpft, der Strom des Nachmittagsverkehrs, der Anblick einer Linde, die Auslagen des Kiosks.

Den Gedanken freien Lauf lassen

Wenn wir an einem Lebensmittelgeschäft vorüberspazieren, malen wir uns vielleicht aus, was es heute zum Abendessen geben könnte, erinnern uns aber plötzlich daran, dass wir ja eigentlich kürzertreten wollten und eh noch zu arbeiten haben. Ein Teil unserer Innenwelt fühlt sich möglicherweise erschöpft und abgestumpft an. Auch Angst könnte da sein, Gewissenbisse. Einige unserer tiefsten Empfindungen, mit denen wir uns eigentlich auseinandersetzen müssten, haben einen potenziell störenden Charakter, weil sie unser derzeitiges Lebenskonzept empfindlich stören könnten. Deshalb schenken wir ihnen keine Aufmerksamkeit. Eine innere Zensur findet statt. Sie blockiert Fortschritte, die wir machen könnten, wenn wir uns selbst einmal genau zuhören würden. Gewisse Ideen, gewisse Gefühle sind für unser Leben wichtig und interessant, auch wenn sie eine deutliche Bedrohung für den aktuellen kurzfristigen Frieden darstellen. Ein Spaziergang hilft dabei, diese inneren Blockaden zu lösen. Während wir gehen, ist der Verstand schon bald nicht mehr so stark auf der Hut. Die rhythmische Bewegung eines leichten Schrittes hilft, uns von den Spurrillen unserer aktuellen Themen zu trennen, und erlaubt es uns, unbeschwerter durch die ausgewählten Regionen unserer inneren Landschaft zu wandern. Themen, zu denen wir den Kontakt verloren hatten – ein seltsamer Traum, den wir kürzlich hatten, unsere Kindheit, eine Freundin, die wir seit Jahren nicht mehr gesehen haben, die Schulzeit, eine grosse Aufgabe, die wir immer übernehmen wollten – kommen uns ins Bewusstsein. 

Mini-Auszeit nur mit mir

Physisch gesehen gehen wir vielleicht nur eine kurze Wegtrecke, aber wir durchqueren einen Hektar mentales Territorium. Kurze Zeit später sind wir wieder zu Hause oder am Arbeitsplatz. Vielleicht hat sogar niemand bemerkt, dass wir überhaupt mal kurz weg waren. Diese Mini-Auszeit gehört nur uns allein, eine kurze Reise mit uns selbst und zu uns selbst. Wir haben uns auf subtile Weise gewandelt: zu einer etwas vollständigeren, visionäreren, mutigeren und fantasievolleren Version der Person, die wir waren, bevor wir auf die Spazierreise gingen.

Inspiration für einen Spaziergang als regenerierende Arbeitspause

„Ich bin dann mal kurz draussen!“ – ein guter Satz, den Ihr Umfeld und Sie selbst häufiger hören sollten.

Auszug aus dem Buch «Auf dem Weg. 20 Spaziergänge für das seelische Wohlbefinden» von Sabine Claus

Foto: www.unsplash.com